Handbuch
zum Co-Counseln (Co-Counselling)

16 Videotechnik

Ziel
Eine traumatische Erfahrung aus der Vergangenheit wird bearbeitet, damit diese Erfahrung die eigenen Verhaltens- und Erlebensspielräume weniger beeinflusst.

Methode
Der Kern der Methode besteht aus drei Elementen:
1. Der Klient sieht mit seinem heutigen Ich sein damaliges Ich aus einer ihn schützenden Distanz, indem er die Situation und dabei auch sich selbst aus der Position eines Betrachters beschreibt, der ein Video ansieht. In diesem Video wird all das gezeigt, was geschehen ist. (Diese Sichtweise hat der Methode ihren Namen ’Videotechnik’ gegeben.)
2. Der Klient stellt ein singuläres schmerzhaftes Erlebnis in einen zeitlichen Zusammenhang mit einem guten Davor und einem guten Danach. Dieser relativierende Kontext ermöglicht ihm leichter und beweglicher mit dem peinigenden Erlebnis umgehen zu können.
3. Der Klient wendet mit Liebe und Zuneigung sich selbst in der schmerzhaften Situation zu. Das ist es, was heilt.

Kennt der Klient eine schmerzhafte Situation in seiner Vergangenheit, die heute noch immer auf ihm lastet und ihn beeinträchtigt, kann er daran mit der Videotechnik zu arbeiten. Er braucht dafür die Zeit einer längeren Sitzung von mehr als 45 Minuten und eine leere Wand, die ihm gegenüber liegt und auf der er sich den Film mit den belastenden Szenen vorstellen kann.
Der Klient stellt sich vor, dem schmerzhaften Erlebnis aus seiner Vergangenheit auf einer sich vor ihm befindenden Leinwand zuzusehen. Er lässt dem Film vor seinem Innerem Auge ablaufen. Er spricht dabei von dem Film als würde er das Geschehen einer Person beschreiben, welche gerade die Leinwand nicht sehen kann. Als Hilfe kann er sich vorstellen das Bild jemanden zu beschreiben, der z.B. gerade in der angrenzenden Küche den Abwasch macht, oder jemanden, mit dem er gerade telefoniert. Da er auch sich selber als Teil des Geschehens auf diesen Schirm projiziert, spricht er von sich selbst dabei in der dritten Person. Auch das schafft eine schützende Distanz zu dem Geschehen auf der Leinwand. Der Klient begleitet dabei sich selbst, den Hauptdarsteller des Films, mit zugewandter liebevoller Aufmerksamkeit

Ich sitze jetzt hier und sehe auf der Leinwand: Dort ist er/sie und ...
Ich passe genau auf, was passiert ...

und wenn der Film für einen Moment anhält, eine Pause macht, kann der Klient sagen:

Was ich ihm (dem Hauptdarsteller) sagen möchte, ist: ...
Ich unterstütze ihn dabei, ....
Ich liebe sie/ihn.

Diese Zeit für eine liebevolle Zuwendung nimmt sich der Klient an jeder Stelle, an der ein starkes Gefühl aufkommt. Er nimmt sich auch Zeit dafür Gefühle, die hochsteigen, auszudrücken und sich dadurch immer wieder Entlastung zu verschaffen.
Der Klient nimmt sich genauso Zeit für jede einzelne Szene des Videos. Erst wenn eine Szene detailliert beschrieben ist, wechselt der Klient zu einer davor liegenden früheren Situation, bearbeitet sie in der gleichen Weise und wiederholt das so lange, bis er zu einem Moment kommt, in dem es noch keinen Schmerz gab, in dem es ihm noch gut ging. Auch diese gute und sichere Situation beschreibt er mit allen Details.

Danach wiederholt der Klient alle Szenen, die er auf dem Schirm gesehen hat noch einmal in umgekehrter zeitlich richtiger Reihenfolge:
Was war bevor alles anfing? Was geschah dann zuerst? und dann? und dann? Was war, nachdem es aufgehört hatte?
Der Klient kann beim Aufzählen der Situationen die Finger benutzen. Das kann helfen zu unterstreichen, dass das Geschehen etwas Vergangenes, jetzt nicht mehr Gegenwärtiges ist, das auch als Solches abgespeichert wird, eine Situation, in der er sich jetzt nicht befindet.
Vergleichen kann man diese Art der Aufzählung damit, wie manchmal von einem Unfall berichtet wird: 1. Teil aus der Zeit vor dem Unfall als es noch gut war (ich führ auf der Strasse nach ....) 2. Teil der Unfall selbst (plötzlich fuhr der Radfahrer nach links ...) 3. Teil etwas aus der Zeit nach dem Unfall als es wieder gut war (... konnte ich wieder laufen). Auch wenn es von Dimension her unangemessen erscheinen mag, sei trotzdem hier angemerkt, das auch die Geschichte von Leben, Leiden und der Auferstehung Christi, diesem einem Heilungsprozess unterstützenden Prinzip folgt.

Vorschläge des Counselers dazu
Um überhaupt zu dieser Technik zu wechseln kann der Counseler in der Anfangsphase einer Sitzung fragen: Möchtest du die Videotechnik benutzen? Ist die Sitzung fortgeschritten, kann er stattdessen fragen: Möchtest du dir vornehmen, in einer der folgenden Sitzungen mit der Videotechnik zu arbeiten?

Die Videotechnik selbst kann der Counseler mit den folgenden Interventionen unterstützen:
Was geschieht dort?
Was geschieht vorher?
Und davor?
Was geschieht dort auf dem Bildschirm?
Es geschieht dort auf dem Bildschirm, es geschieht nicht hier . Was siehst du?
Richte deine Augen weiter auf den Bildschirm.
Du lachst, was geschieht auf dem Bildschirm?
Gibt es noch etwas, was du zu diesem Bild sagen möchtest?
Atme weiter.
Hast du alles beschrieben, um zu der Szene davor gehen zu können?
Was geschieht weiter?
Wie fühlt sie/er sich?
Kannst du ihr/ihm etwas liebevolles sagen?
Kannst du ihr/ihm etwas sagen, dass ihn unterstützt? (Du hast es richtig gemacht. Du warst tapfer. ... ?)

Beachte
Klient und Counseler sitzen bequem, so dass sie konzentriert arbeiten können. Der Klient beschreibt sich in der dritten Person. Der Klient ist solidarisch mit sich selbst in der Szene. Was war gut (hilfreich, rettend, klug ...) daran, dass er/sie das getan hat? Viele der oben beschriebenen Co-Counsel-Techniken können während der Beschreibung der einzelnen Filmszenen verwendet werden, wie Buchstäbliches Beschreiben Selbstwahrnehmung, acting into usw. . Die Videotechnik ist in dem Sinne eine Drehbuch für eine Folge von Techniken.

Hintergrund
Gibt es eine unberarbeitete traumatische Situation und wird diese in einer Sitzung nach oben geholt, kann es zu einer Wiederholung der Verletzung kommen. Geschieht so etwas oft, kann Co-Counseln schaden, anstelle zu helfen. Sitzungen aktualisieren dann Verletzungen aus der Vergangenheit, anstelle diesen einen realistischen Platz in der Vergangenheit zuzuweisen.
Der zeitliche Kontext in den der Klient mit der Videotechnik die verletzende Situation stellt¸ hilft dem Gehirn der unverarbeiteten Situation einen Platz zuzuweisen, sie zu integrieren: Diese Erfahrung ist ein Teil von ihm, sie hatte eine bestimmte Zeit und einen Ort, der unterschieden ist vom Hier und Jetzt.
Solch ein Prozess kann nicht erzeugt werden, wenn die Aufmerksamkeit allein auf die belastende Situation selbst und die damit verbundenen Gefühle gerichtet ist. Durch den bei der Videotechnik entstandenem Plot sind zu vorher isolierten Erfahrungen sozusagen fehlende Puzzle-Teile hinzugekommen, durch die sie ihren Ort und ihre Zeit erhalten. Ist der Plot auf diese Weise mit ganzem Herzblut geschrieben, kann etwas schreckliches, das vielleicht einmal die ganze Welt durchdrungen hat, den Schrecken in der Gegenwart verlieren – man weiß dann besser: Es ist vorbei. Ist das passiert, kann man danach auch andere Träume träumen.

 

26/39