Karola Berger: "Co-Counseln: Die Therapie ohne Therapeut".

Sachbuch 9954 im Rowohlt-Verlag, Reinbek, 1990, ISBN 3-499-19954-8 (z.Zt. vergriffen)

Einleitung

von Gabriele Heise

Co-Counseln (gesprochen: Ko-Kaunßeln), oder Co-Counselling, wie es im englischen Sprachraum heißt, bedeutet soviel wie: sich gegenseitig beraten. Das Co-Counseln wurde in den fünfziger Jahren von einem Amerikaner namens Harvey Jackins begründet. Er nannte es Re-evaluation Counselling - ein fast unübersetzbares Wort, das meint: neue Maßstäbe, neue Sichtweisen und Werte finden mit Hilfe einer selbstgesteuerten gegenseitigen Beratung.

In Europa blieb die Methode relativ unbekannt. Erst in den letzten Jahren fand sie hier Anhänger - vor allem in England. Dort besteht inzwischen eine recht aktive Gruppe, die Workshops anbietet und Texte zum Co-Counseln veröffentlicht.

Die wichtigste Annahme des Co-Counselns ist, dass jeder Mensch über große Potentiale verfügt, liebevoll, kreativ, vernünftig und lebendig zu sein. Damit könnte er eigentlich ständig neue und angemessene Antworten auf all seine Probleme finden - nicht nur individuell, sondern auch kollektiv. Diese Potentiale sind jedoch häufig blockiert. Die Reaktionen fallen deshalb starr, stereotyp und wenig originell aus. Das Verhalten, das Denken, das Erleben zeigen die immergleichen Muster, die nur schwer zu erkennen, noch schwerer zu kontrollieren und am schwersten zu verändern sind.

Diese Muster - so eine Hauptthese der Theorie - stammen aus seelisch schmerzhaften Erfahrungen, die nicht verarbeitet, sondern nur verdrängt worden sind. Je früher diese Schmerzen erlebt wurden - also meist in der Kindheit -, desto gründlicher sind diese Bereiche in uns verriegelt. Sie zeigen sich nur noch in unklaren Span-nungszuständen, Stress und dumpfem Druck. Wir wissen nicht, was dahinter steckt. Wir wollen es auch nicht wissen, denn diese Erkenntnis wäre mit Schmerzen, Trauer oder Wut verbunden - Gefühle, die wir fürchten, denn sie sind sozial nicht anerkannt. Würden wir sie frei äußern - so unsere Angst -, dann drohten uns Einsamkeit und Isolation.

Immer wenn die alten Schmerzen spürbar werden, wehren wir sie ab, indem wir uns innerlich «tot stellen» und stereotyp, eben in Mustern, reagieren. Für diese Abwehr opfern wir oft große Teile unserer potentiellen Lebendigkeit. Nach dem Motto: Sicherheit verlangt ihren Preis.

Gelingt es aber - und das ist das Bemühen des Co-Counselns -, diese Verkrustungen zu erkennen, die alten Schmerzen dahinter erneut zu fühlen und sie uns und anderen sichtbar zu machen, dann können die alten Wunden allmählich heilen. Unsere Spontaneität wächst. Wir müssen uns nicht mehr aus Gründen unserer «inneren Sicherheit» vor Eindrücken verschließen, die uns emotional berühren könnten. Unsere Kräfte stehen uns voll zur Verfügung, sie sind nicht mehr in alten Ängsten gebunden. Um diesen neuen - wie ich finde - verheißungsvollen Zustand zu fördern, gibt es nun im Co-Counseln verschiedene Methoden. Sie werden in diesem Buch ausführlich vorgestellt.

Die grundlegende Theorie des Co-Counselns ist nicht neu. Die meisten therapeutischen Methoden gehen auf ähnliche Annahmen zurück. Beim Co-Counseln wird jedoch ohne das klassische Setting Patient/Therapeut gearbeitet. Es ist eine Selbsthilfemethode, in der sich Laien psychotherapeutisch so weit ausbilden lassen, dass sie sich wechselseitig helfen können.

Wie sieht das praktisch aus?

Co-Counseln ist - kurz gesagt - eine Technik des konzentrierten Zuhörens. Man arbeitet zu zweit - einer spricht und ist der «Klient», der andere hört zu und ist der «Counseler». Nach einer verabredeten Zeit werden die Rollen gewechselt.

Des Weiteren gibt es diverse Interventionsmöglichkeiten, mit denen der Counseler die Arbeit seines Partners unterstützen kann. Sie werden dann eingesetzt, wenn der Prozess stockt, also wenn der Sprechende offenbar Gefühle verdrängt, übersieht oder nicht deutlich spürt. Es liegt jedoch ganz bei dem, der an einem Problem arbeitet, ob er diese Interventionen annimmt oder nicht. Er selber entscheidet, wie weit er sich öffnen will.

Wichtig ist, dass beide an die Reihe kommen - notfalls in der nächsten Sitzung, falls die Zeit nicht mehr reicht. Es darf keine Hierarchie entstehen. Beide sollen erfahren, dass sie sowohl als Counseler als auch als Klient Kompetenzen haben. Dadurch entfallen Gefühle von Dankbarkeit, Beschämung oder Abhängigkeit. Auch ist es eine heilsame Erfahrung, nach der Regression in Schmerz und Verzagtheit als Klient schon kurz danach als Counseler zu agieren und zu erleben, dass auch Stärke und Einfühlungskraft zur eigenen Person gehören. Das Aufdecken und Bearbeiten von Gefühlen geschieht im Wesentlichen verbal. Man sucht nach Worten, um einen inneren Zustand, ein Problem, einen Gedanken auszusprechen. Dieses Aussprechen hat nicht die Funktion, dem Counseler etwas zu erklären. Das ist - im Gegenteil - völlig nebensächlich, ja sogar eher kontraproduktiv. Vielmehr ist die Suche nach Worten ein Vehikel, um sich selbst klarer darüber zu werden, was los ist, wo man steht und was gerade anliegt. Es geht um Selbstklärung. Das Aussprechen ist dabei ein Weg, um den inneren Monolog, in dem wir mit uns selbst stehen, im Beisein eines Zeugen nach außen zu wenden. Er wird dadurch für uns realer, konkreter und einsichtiger.

Bei diesem Selbst-Thematisieren geht es jedoch vor allem darum -und das ist die therapeutische Dimension des Counselns -, die Gefühle aufzudecken, von denen unser tägliches Leben, unsere Handlungen und unsere Überlegungen begleitet und durchzogen sind. Dadurch werden die eigenen Motive, Zweifel, Ängste, Aggressionen oder Sehnsüchte transparenter. Wir können sie in unser Bewusstsein integrieren und machen nicht ständig uns selbst oder unsere Mitmenschen zum Opfer verdeckter Konflikte.

Intensive Co-Counsel-Sitzungen können zu einer emotionalen Katharsis führen. Sie drückt sich in Weinen, Schreien, Gelächter und anderen sichtbaren Reaktionen aus. Das klingt dramatisch und kann auch - gerade für Anfänger - erschreckend sein. Aber es geht eben darum, alte Schmerzen noch einmal zu durchleben. Erst dann verlieren sie ihren Schrecken und sind in die Persönlichkeit integrierbar. Nur abstrakt über Gefühle zu reden ist eine unproduktive, jedoch von uns allen angewandte Methode, um sie noch mehr zu domestizieren. Man «weiß» dann zwar alles über sich, lässt aber die eigenen Grundstrukturen im Wesentlichen unangetastet.

Für wen ist Co-Counseln zu empfehlen?

Wer irgendwann einmal auf der Couch oder im Sessel eines Therapeuten gelandet ist, dem sind Vorteile und Grenzen einer solchen Reise nach innen sicher klar. Ihre Vorteile liegen darin, sich selbst gut kennen zu lernen und auch ungeliebte Anteile der eigenen Person zu verstehen und zu akzeptieren. Jede Therapie ist eine geschützte Beziehung zu einem Menschen, der unverbrüchlich zu einem hält, keine Verurteilungen, keine Kritik äußert und zum intimen, zuverlässigen Vertrauten wird. Dadurch gelingt es leichter, zu sich selbst ebenfalls ein Verhältnis zu finden, das auf Abwertung, Kritik, Selbsthass verzichten kann und von einer Grundloyalität gegenüber den eigenen Motiven und Konflikten geprägt ist. Man wird sozusagen «gut Freund» mit sich selber.

Die Grenzen einer Therapie liegen ebenfalls auf der Hand: Es ist eine Beziehung auf Zeit, sie muss teuer bezahlt werden, sie lässt sich nicht ohne weiteres in den Alltag übertragen, sondern stellt eine kostbare Nische dar, aus der man irgendwann wieder heraus muss.

Therapeutische Vorerfahrungen sind beim Co-Counseln hilfreich. Therapieerfahrene schrecken nicht so leicht vor ihren eigenen seelischen Abgründen zurück und sind darin geübt, emotionale Konflikte aufzuarbeiten. Auch in der Rolle des Counselers können sie die offen gezeigten Emotionen ihres Gegenübers leichter ertragen, ohne sie durch Trösten, Argumentieren oder hektisches Helfenwollen ersticken zu müssen. Diese Zurückhaltung ist sehr wichtig, denn der Counseler - so will es die Regel - hört im Wesentlichen nur zu und hat nicht die Aufgabe, Diagnosen zu stellen und Problemlösungen für den anderen zu suchen. Er unterstützt lediglich die Selbstklärung und übernimmt keinerlei Verantwortung für deren Verlauf und Ergebnis.

Das Co-Counseln bietet die Vorteile einer psychologischen Selbstreflexion, ohne dabei die Grenzen einer konventionellen Therapie in Kauf nehmen zu müssen: Beim Co-Counseln sind die Partner gleichwertig. Der Kontrakt zwischen ihnen beruht auf Gegenseitigkeit und nicht auf Bezahlung. Sie verabreden sich, wenn ihnen danach zumute ist, und gehen keine langfristigen Verpflichtungen miteinander ein, wenn sie das nicht wollen. Die Beteiligten haben vor allem den Wunsch, mit sich selbst in innerem Kontakt zu bleiben. Sie wollen sich in ihren Fragen und Problemen allein helfen und nicht therapiert werden. Sie wissen aus eigener Erfahrung: Alles, was ausgesprochen, bearbeitet und geklärt ist, braucht nicht länger im Inneren zu grummeln und zu drücken. Gebundene Energien werden freigesetzt, das Lebensgefühl wird klarer und angenehmer. Das ist ihr Grundkonsens, und deshalb treffen sie sich.

Das heißt nun nicht, dass Co-Counseln «glücklich macht». Konflikte haben oft tiefe Ursachen, und ehe diese nicht geklärt sind, wird sich auch das Lebensgefühl nicht wesentlich ändern. Aber Co-Counseln ist eine gute Methode, diesen Konflikten und ihren Ursachen auf die Spur zu kommen. Das Tempo der Selbstveränderung steigt, die Intensität nimmt zu. Der Kopf wird klar, weil die Dinge beim Namen genannt werden und ihre unbewusste Dynamik verlieren.

All diese Vorzüge können natürlich nur entdeckt werden, wenn es nicht beim Gelegenheits-Counseln bleibt. Man sollte schon versuchen, sich mit seinem Partner oder seiner Gruppe über einen gewissen Zeitraum hinweg regelmäßig zu treffen - auch dann, wenn es mal zu schwierigen Phasen kommt und man die Arbeit am liebsten abbrechen möchte. Häufig ist gerade diese Unlust ein Indiz dafür, dass es « heiß » wird und irgendeine Wahrheit ans Licht drängt, von der man lieber nichts wissen möchte.

Für wen ist Co-Counseln nicht geeignet?

Grundsätzlich kann jeder co-counseln, der dazu Lust hat und in die Methode eingeführt worden ist, z. B. durch einen erfahrenen Counseler oder durch einen Therapeuten. Dafür reichen zwei Wochenendkurse.

Wer ernsthafte psychische Störungen hat, der sollte vom Co-Counseln jedoch lieber die Finger lassen und sich professionelle Hilfe suchen. Co-Counseln ist eine Methode für Laien. Die Verantwortung für den Verlauf einer Sitzung trägt der Klient immer selbst. Liegen schwerwiegende Neurosen oder andere Erkrankungen vor, sind alle Beteiligten überfordert, sie auf diese Art und Weise zu bearbeiten. Dann kann Co-Counseln sogar schädlich werden, denn es verschafft vorübergehend Entlastung, fördert jedoch letztlich die Verschleppung der ursächlichen Probleme.

Es ist nicht leicht zu unterscheiden, wann ein Problem zu gravierend ist, um lediglich becounselt zu werden. Die Gruppe muss versuchen, füreinander so sensibel zu werden, dass sie über die jeweiligen Grenzen offen sprechen kann. Wie bei allen Selbsthilfemethoden sind Risiken nicht vollständig auszuschließen. Dennoch sind die Vorteile des Co-Counselns so einleuchtend, dass diese Einschränkungen das Ausprobieren des Co-Counselns nicht verhindern sollten.

Mit wem sollte man co-counseln?

Partner zum Co-Counseln sind leicht zu finden, denn grundsätzlich kann jeder die Methode erlernen. Während einer Sitzung ist es manchmal auch ganz egal, wer einem gegenübersitzt. Wichtig ist nur, dass jemand gegenübersitzt, denn nur dann kommt der Rede- und Gedankenfluss in Gang. Bei dem Versuch, sich über den eigenen Zustand klarer zu werden, wirkt allein die Präsenz des anderen wie ein Katalysator.

Besser ist es natürlich, wenn man für die Leute, mit denen man co-counselt, Sympathie und Interesse aufbringen kann. Es liegt deshalb nahe, die Partner im eigenen Freundes- und Bekanntenkreis zu suchen. Dabei besteht die Gefahr, dass es mit der Disziplin hapert. Dann wird nicht gecounselt, sondern geratscht.

Ein weiterer Nachteil von sehr vertrauten Partnern ist auch, dass oft nicht an tieferen Gefühlen der Sympathie oder der Antipathie gearbeitet wird, um die Freundschaft nicht zu gefährden. Dann kann nicht deutlich werden, dass immer eigene Projektionen darüber entscheiden, wen wir mögen und wen nicht, und welche Projektionen das sind.

Um zwischen mehreren Partnern zum Co-Counseln wählen zu können, ist es günstig, wenn eine ganze Gruppe zusammenkommt, die die Methode erlernen will und sich von einem professionellen Trainer einarbeiten lässt. Danach geht es dann weitgehend ohne Fachmann. Die Paare, oder auch die ganze Gruppe, verabreden sich eigenständig miteinander. Eine gewisse Regelmäßigkeit ist wichtig. Je größer die Abstände zwischen den einzelnen Treffen sind, desto schwieriger ist es, wieder in die Arbeit hineinzukommen. Manche Konflikte, die in der vergangenen Sitzung aufgebrochen sind, sind dann schon wieder unbearbeitet verdrängt worden.

Es ist deshalb entscheidend, dass alle Gruppenmitglieder bereit sind, die Verbindlichkeiten, auf die sie sich geeinigt haben, einzuhalten. Nach meiner Erfahrung ist das nicht schwierig. Gerade in einer Großstadt gibt es viele Menschen, die sehr froh sind, wenn sie verlässliche soziale Kontakte aufbauen können.

Das Co-Counseln erlaubt jedoch auch, Begegnungen wirklich nur auf die Sitzungen zu beschränken, und verpflichtet niemanden zu einer Zwangsgemeinschaft. Es kann ein reiner Arbeitskontakt sein, den zwei Partner oder eine ganze Gruppe miteinander pflegen. Manchmal ist das sehr entlastend. Der andere oder die anderen sind ja intim mit allem vertraut, was einen bewegt. Da kann es schon sein, dass Distanz im Alltag wohltuend wirkt. Jeder lebt sein Leben und verabredet sich mit den Partnern nur, um die Seele mal kurz aufzuschütteln und mit Hilfe der anderen für sich zu klären, was gerade anliegt.

Meine Erfahrung ist, dass selbst aus solchen Arbeitsbeziehungen allmählich Freundschaften werden - schon allein deshalb, weil sich der Umgang zwischen Co-Counsel-Erfahrenen wohltuend von vielen anderen Kontakten unterscheidet. Der Small Talk fällt leichter weg, man kommt eher auf den Punkt, hat intensivere und ehrlichere Gespräche und nimmt Anteil am Leben der anderen.