'Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden'
ist ein Aufsatz des Schriftstellers Heinrich von Kleist und entstand
um 1805.
Die Schrift wurde
postum 1878 veröffentlicht.
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Ein nettes Zitat aus einem Schüleraufsatz zum Thema:
'
Heinrich von Kleist versucht in seinem Aufsatz die Menschen zum Denken
anzuregen. Er will ihnen verdeutlichen, dass man nie aufgeben
sollte. Es gibt immer einen Weg um zur Problemlösung zu gelangen.
Schon das bloße Reden führt zu einer gezielten Konfrontation
mit der Thematik, was dann dazu führen kann, dass sich Gedanken
weiterentwickeln und sich 'verfertigen'
Jetzt aber der Text selbst:
Über die allmähliche Verfertigung
der Gedanken beim Reden
Wenn du etwas wissen willst und es durch Meditation
nicht finden kannst, so rate ich dir, mein lieber, sinnreicher
Freund, mit dem nächsten Bekannten, der dir aufstößt,
darüber zu sprechen. Es braucht nicht eben ein scharfdenkender
Kopf zu sein, auch meine ich es nicht so, als ob du ihn darum
befragen solltest: nein! Vielmehr sollst du es ihm selber allererst
erzählen. Ich sehe dich zwar große Augen machen,
und mir antworten, man habe dir in frühern Jahren den
Rat gegeben, von nichts zu sprechen, als nur von Dingen, die
du bereits verstehst. Damals aber sprachst du wahrscheinlich
mit dem Vorwitz, andere, ich will, daß du aus
der verständigen Absicht sprechest, dich zu belehren,
und so können, für verschiedene Fälle verschieden,
beide Klugheitsregeln vielleicht gut nebeneinander bestehen.
Der Franzose sagt, l'appétit vient en mangeant, und
dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert,
und sagt, l'idee vient en parlant.
Oft sitze ich an meinem Geschäftstisch über
den Akten, und erforsche, in einer verwickelten Streitsache,
den Gesichtspunkt, aus welchem sie wohl zu beurteilen sein
möchte. Ich pflege dann gewöhnlich ins Licht zu sehen,
als in den hellsten Punkt, bei dem Bestreben, in welchem mein
innerstes Wesen begriffen ist, sich aufzuklären. Oder
ich suche, wenn mir eine algebraische Aufgabe vorkommt, den
ersten Ansatz, die Gleichung, die die gegebenen Verhältnisse
ausdrückt, und aus welcher sich die Auflösung nachher
durch Rechnung leicht ergibt. Und siehe da, wenn ich mit meiner
Schwester davon rede, welche hinter mir sitzt, und arbeitet,
so erfahre ich, was ich durch ein vielleicht stundenlanges
Brüten nicht herausgebracht haben würde. Nicht, als
ob sie es mir, im eigentlichen Sinne, sagte; den sie
kennt weder das Gesetzbuch, noch hat sie den Euler, oder den
Kästner studiert. Auch nicht, als ob sie mich durch geschickte
Fragen auf den Punkt hinführte, auf welchen es ankommt,
wenn schon dies letzte häufig der Fall sein mag. Aber
weil ich doch irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem,
was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so
prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das
Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit,
dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung
zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die
Erkenntnis zu meinem Erstaunen mit der Periode fertig ist.
Ich mische unartikulierte Töne ein, ziehe die Verbindungswörter
in die Länge, gebrauche wohl eine Apposition, wo sie nicht
nötig wäre, und bediene mich anderer, die Rede ausdehnender,
Kunstgriffe, zur Fabrikation meiner Idee auf der Werkstätte
der Vernunft, die gehörige Zeit zu gewinnen. Dabei ist
mir nichts heilsamer, als eine Bewegung meiner Schwester, als
ob sie mich unterbrechen wollte; denn mein ohnehin schon angestrengtes
Gemüt wird durch diesen Versuch von außen, ihm die
Rede, in deren Besitz es sich befindet, zu entreißen,
nur noch mehr erregt, und in seiner Fähigkeit, wie ein
großer General, wenn die Umstände drängen,
noch um einen Grad höher gespannt. In diesem Sinne begreife
ich, von welchem Nutzen Moliere seine Magd sein konnte; denn
wenn er derselben, wie er vorgibt, ein Urteil zutraute, das
das seinige berichten konnte, so ist dies eine Bescheidenheit,
an deren Dasein in seiner Brust ich nicht glaube. Es liegt
ein sonderbarer Quell der Begeisterung für denjenigen,
der spricht, in einem menschlichen Antlitz, das ihm gegenübersteht;
und ein Blick, der uns einen halb ausgedrückten Gedanken
schon als begriffen ankündigt, schenkt uns oft den Ausdruck
für die ganz andere Hälfte desselben.
Ich glaube, daß mancher großer Redner,
in dem Augenblick, da er den Mund aufmachte, noch nicht wußte,
was er sagen würde. Aber die Überzeugung, daß er
die ihm nötige Gedankenfülle schon aus den Umständen,
und der daraus resultierenden Erregung seines Gemüts schöpfen
würde, machte ihn dreist genug, den Anfang, auf gutes
Glück hin, zu setzen.
Mir fällt jener "Donnerkeil" des
Mirabeau ein, mit welchem er den Zeremonienmeister abfertigte,
der nach Aufhebung der letzten monarchischen Sitzung des Königs
am 23ten Juni, in welcher dieser den Ständen auseinanderzugehen
anbefohlen hatte, in den Sitzungssaal, in welchem die Stände
noch verweilten, zurückkehrte, und sie befragte, ob sie
den Befehl des Königs vernommen hätten? "Ja",
antwortete Mirabeau, "wir haben des Königs Befehl
vernommen" - ich bin gewiß, daß er, bei diesem
humanen Anfang, noch nicht an die Bajonette dachte, mit welchen
er schloß: "ja, mein Herr", wiederholte er, "wir
haben ihn vernommen" - man sieht, daß er noch gar
nicht recht weiß, was er will. "Doch was berechtigt
Sie" - fuhr er fort, und nun plötzlich geht ihm ein
Quell ungeheurer Vorstellungen auf - "uns hier Befehle
anzudeuten? Wir sind die Repräsentanten der Nation." -
Das war es, was er brauchte! "Die Nation gibt Befehle
und empfängt keine" - um sich gleich auf den Gipfel
der Vermessenheit zu schwingen. "Und damit ich mich ihnen
ganz deutlich erkläre" - und erst jetzo findet er,
was den ganzen Widerstand, zu welchem seine Seele gerüstet
dasteht, ausdrückt: "So sagen Sie Ihrem Könige,
daß wir unsere Plätze anders nicht, als auf die
Gewalt der Bajonette verlassen werden." - Worauf er sich,
selbstzufrieden, auf einen Stuhl niedersetzte. - Wenn man an
den Zeremonienmeister denkt, so kann man sich ihn bei diesem
Auftritt nicht anders, als in einem völligen Geistesbankerott
vorstellen; nach einem ähnlichen Gesetz, nach welchem
in einem Körper, der von einem elektrischen Zustand Null
ist, wenn er in eines elektrisierten Körpers Atmosphäre
kommt, plötzlich die entgegengesetzte Elektrizität
erweckt wird. Und wie in dem elektrisierten dadurch, nach einer
Wechselwirkung, der in ihm inwohnende Elektrizitätsgrad
wieder verstärkt wird, so ging unseres Redners Mut, bei
der Vernichtung seines Gegners, zur verwegensten Begeisterung über.
Vielleicht, daß es auf diese Art zuletzt das Zucken einer
Oberlippe war, oder ein zweideutiges Spiel an der Manschette,
was in Frankreich den Umsturz der Ordnung der Dinge bewirkte.
Man liest, daß Mirabeau sobald der Zeremonienmeister
sich entfernt hatte, aufstand, und vorschlug: 1) sich sogleich
als Nationalversammlung, und 2) als unverletzlich, zu konstituieren.
Denn dadurch, daß er sich, einer Kleistischen Flasche
gleich, entladen hatte, war er nun wieder neutral geworden,
und gab, von der Verwegenheit zurückgekehrt, plötzlich
der Furcht vor dem Chatelet, und der Vorsicht, Raum.
Dies ist eine merkwürdige Übereinstimmung
zwischen den Erscheinungen der physischen und moralischen Welt,
welche sich, wenn man sie verfolgen wollte, auch noch in den
Nebenumständen bewähren würde. Doch ich verlasse
mein Gleichnis, und kehre zur Sache zurück.
Auch Lafontaine gibt, in seiner Fabel: les animaux
malades de la peste, wo der Fuchs dem Löwen eine Apologie
zu halten gezwungen ist, ohne zu wissen, wo er den Stoff dazu
hernehmen soll, ein merkwürdiges Beispiel von einer allmählichen
Verfertigung des Gedankens aus einem in der Not hingesetzten
Anfang. Man kennt diese Fabel. Die Pest herrscht im Tierreich,
der Löwe versammelt die Großen desselben, und eröffnet
ihnen, daß dem Himmel, wenn er besänftigt werden
solle, ein Opfer fallen müsse. Viel Sünder seien
im Volke, der Tod des größesten müsse die übrigen
vom Untergang retten. Sie möchten ihm daher ihre Vergehungen
aufrichtig bekennen. Er, für sein Teil, gestehe, daß er,
im Drange des Hungers, manchem Schafe den Garaus gemacht; auch
dem Hunde, wenn er ihm zu nahe gekommen; ja, es sei ihm in
leckerhaften Augenblicken zugestoßen, daß er den
Schäfer gefressen. Wenn niemand sich größerer
Schwachheiten sich schuldig gemacht habe, so sei er bereit
zu sterben. "Sire", sagt der Fuchs, der das Ungewitter
von sich ableiten will, "Sie sind zu großmütig.
Ihr edler Eifer führt Sie zu weit. Was ist es, ein Schaf
erwürgen? Oder ein Hund, diese nichtswürdige Bestie?
Und: quant au berger", fährt er fort, denn dies ist
der Hauptpunkt: "On peut dire"; obschon er noch nicht
weiß, was?" qu'il méritoit tout mal";
auf gut Glück; und somit ist er verwickelt; "etant";
eine schlechte Phrase, die ihm aber Zeit verschafft: "de
ces gens la", nun erst findet er den Gedanken, der ihn
aus der Not reißt: "qui sur les animaux se font
un chimerique empire". Und jetzt beweist er, daß der
Esel, der blutdürstige! (der alle Kräuter auffrißt),
das zweckmäßigste Opfer sei, worauf alle über
ihn herfallen, und ihn zerreißen.
Ein solches Reden ist wahrhaft lautes Denken.
Die Reihen der Vorstellungen und ihrer Bezeichnungen gehen
nebeneinander fort, und die Gemütsakte, für eins
und das andere, kongruieren. Die Sprache ist alsdann keine
Fessel, etwa wie ein Hemmschuh an dem Rade des Geistes, sondern
wie ein zweites mit ihm parallel fortlaufendes, Rad an seiner
Achse.
Etwas ganz anderes ist es, wenn der Geist schon,
vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er
bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben,
und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr
keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen.
Wenn daher eine Vorstellung verworren ausgedrückt wird,
so folgt der Schluß noch gar nicht, daß sie auch
verworren gedacht worden sei; vielmehr könnte es leicht
sein, daß die verworrenst ausgedrückten gerade am
deutlichsten gedacht werden. Man sieht oft in einer Gesellschaft,
wo, durch ein lebhaftes Gespräch, eine kontinuierliche
Befruchtung der Gemüter mit Ideen im Werk ist, Leute,
die sich, weil sie sich der Sprache nicht mächtig fühlen,
sonst in der Regel zurückgezogen halten, plötzlich,
mit einer zuckenden Bewegung aufflammen, die Sprache an sich
reißen und etwas Unverständliches zur Welt bringen.
Ja, sie scheinen, wenn sie nun die Aufmerksamkeit aller auf
sich gezogen haben, durch ein verlegnes Gebärdenspiel
anzudeuten, daß sie selbst nicht mehr recht wissen, was
sie haben sagen wollen. Es ist wahrscheinlich, daß diese
Leute etwas recht Treffendes, und sehr deutlich, gedacht haben.
Aber der plötzliche Geschäftswechsel, der Übergang
ihres Geistes vom Denen zum Ausdrücken, schlug die ganze
Erregung desselben, die zur Festaltung des Gedankens notwendig,
wie zum Hervorbringen, erforderlich war, wieder nieder. In
solchen Fällen ist es um so unerläßlicher,
daß uns die Sprache mit Leichtigkeit zur Hand sei, um
dasjenige, was wir gleichzeitig gedacht haben, und doch nicht
gleichzeitig von uns geben können, wenigstens so schnell
als möglich, aufeinander folgen zu lassen. Und überhaupt
wird jeder, der, bei gleicher Deutlichkeit, geschwinder als
sein Gegner spricht, einen Vorteil über ihn haben, weil
er gleichsam mehr Truppen als er ins Feld führt.
Wie notwendig eine gewisse Erregung des Gemüts
ist, auch selbst nur, um Vorstellungen, die wir schon gehabt
haben, wieder zu erzeugen, sieht man oft, wenn offene, und
unterrichtete Köpfe examiniert werden, und man ihnen,
ohne vorhergegegangene Einleitung, Fragen vorlegt, wie diese:
was ist der Staat? Oder: was ist das Eigentum? Oder dergleichen.
Wenn diese jungen Leute in einer Gesellschaft befunden hätten,
wo man sich vom Staat, oder vom Eigentum, schon eine Zeit lang
unterhalten hätte, so würden sie vielleicht mit Leichtigkeit,
durch Vergleichung, Absonderung und Zusammenfassung der Begriffe,
die Definition gefunden haben. Hier aber, wo die Vorbereitung
des Gemüts gänzlich fehlt, sieht man sie stocken,
und nur ein unverständiger Examinator wird daraus schließen,
daß sie nicht wissen. Denn nicht wir wissen,
es ist allererst ein gewisser Zustand unsrer, welcher
weiß. Nur ganz gemeine Geister, Leute, die, was der Staat
sei, gestern auswendig gelernt, und morgen schon wieder vergessen
haben, werden hier mit Antwort bei der Hand sein. Vielleicht
gibt es überhaupt keine schlechtere Gelegenheit, sich
von einer vorteilhaften Seite zu zeigen, als grade eine öffentliches
Examen. Abgerechnet, daß es schon widerwärtig und
das Zartgefühl verletzend ist, und daß es reizt,
sich stetig zu zeigen, wenn solch ein gelehrter Roßkamm
nach den Kenntnissen sieht, um uns, je nachdem es fünf
oder sechs sind, zu kaufen oder wieder abtreten zu lassen:
es ist so schwer, auf ein menschliches Gemüt zu spielen
und ihm seinen eigentümlichen Laut abzulocken, es verstimmt
sich so leicht unter ungeschickten Händen, daß selbst
der geübteste Menschenkenner, der in der Hebeammenkunst
der Gedanken, wie Kant sie nennt, auf das meisterhafteste bewandert
wäre, hier noch, wegen der Unbekanntschaft mit seinem
Sechswöchner Mißgriffe tun könnte. Was übrigens
solchen jungen Leuten, auch selbst den unwissendsten noch,
in den meisten Fällen ein gutes Zeugnis verschafft, ist
der Umstand, daß die Gemüter der Examinatoren, wenn
die Prüfung öffentlich geschieht, selbst zu sehr
befangen sind, um ein freies Urteil fällen zu können.
Denn nicht nur fühlen sie häufig die Unanständigkeit
dieses ganzen Verfahrens: man würde sich schon schämen,
von jemanden, daß er seine Geldbörse vor uns ausschütte,
zu fordern, viel weniger, seine Seele: sondern ihr eigener
Verstand muß hier eine gefährliche Musterung passieren,
und sie mögen oft ihrem Gott danken, wenn sie selbst aus
dem Examen gehen können, ohne sich Blößen,
schmachvoller vielleicht, als der, eben von der Universität
kommende, Jüngling, gegeben zu haben, den sie examinierten.
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