Erschwinglicher Seelenluxus
Therapie ohne Therapeut, Coaching ohne Coach: Co-Counseln ist
gegenseitige Unterstützung auf Augenhöhe
Von Sandra Wilsdorf
Es gibt Menschen, die haben einfach immer Pech. Sie finden nie die richtigen
Jobs. Und wenn doch, dann ist der Chef ein Idiot und die Arbeit viel zu
viel. Oder sie opfern sich für ihre Mitmenschen auf und die vergelten
das nicht mit der gebührenden Dankbarkeit. Oder die Liebe ist ein
Hindernislauf. Manche dieser Menschen glauben, die Erde drehe sich nur,
weil ihnen davon schwindelig wird. Sie können versuchen, die Drehung
zu stoppen, oder sich mit dem Jammern darüber beschäftigen.
Oder aber sie können nachsehen, ob sie nicht auch einen Anteil an
der Vertraktheit ihrer Welt tragen, und versuchen, daran etwas zu ändern.
Wer sich bei der einsamen Selbstreflexion immer wieder im Kreise dreht,
wem das Gespräch mit Freunden nicht reicht, eine Therapie aber zu
teuer ist, der kann den Therapeuten in sich selber aktivieren: "Co-Counseln" heißt
das Prinzip und stammt aus der humanistischen Psychologie in den USA.
Die Idee: Jeder besitzt Möglichkeiten, sich zu entwickeln, welche
das sind, kann nur er selber entdecken, und zwar in einem geschützten
Raum, in dem er sich sicher fühlt.
Beim "Co-Counseln" schenken zwei Menschen einander Zeit zum
Zuhören. Jeder hat die gleiche Zeit, seinen Gedanken nachzugehen,
Situationen von gestern neu zu beleuchten oder das Morgen zu planen. Der
Zuhörer beurteilt nicht und gibt keine Ratschläge, er unterstützt
das Sprechen und sich Entdecken, indem er beispielsweise zum Weiterreden
ermuntert, wenn das Gegenüber stockt, oder Assoziationen und Rollenspiele
vorschlägt. Dem Gegenüber sind die Techniken vertraut, denn
beide haben sie in einem zwei Wochenenden dauernden Seminar erlernt. Sie
begegnen einander auf gleicher Ebene.
Auch Roland Gerhard* hat das Co-Counseln eine Weile durchs Leben geholfen.
Er sieht die Therapie ohne Therapeuten, das Coaching ohne Coach auch pragmatisch
und erinnert sich an ein Gespräch mit seinem Onkel, der Maler war. "Als
die Baumärkte aufkamen fürchtete er, dass keine Wohnung mehr
ordentlich tapeziert sein würde." Heute könne man darüber
diskutieren, ob nicht vieles aus Coaching und Therapie in Eigenarbeit
geschehen könnte. Nicht nur, weil sich dadurch mehr Menschen diesen
Luxus leisten könnten, sondern auch, weil man dabei seine eigenen
Fähigkeiten erlebe.
Als Gerhard vor acht Jahren von dem Prinzip des "gegenseitigen Beratens" hörte,
wie Co-Counseln wörtlich übersetzt heißt, war der Berufsschullehrer
gerade mal wieder völlig überarbeitet und hatte die Idee, dass
das auch anders gehen müsste. Eineinhalb Jahre lang traf er sich
ein- bis zweimal die Woche mit seinem Berater und Zuhörer, "das
hat vieles in Bewegung gebracht". Heute hilft er mit, das Co-Counsel-Netzwerk
in Hamburg zu organisieren und Kurse anzubieten.
Etwa 200 Menschen haben bisher ein Seminar besucht und sich eine Weile
dieser Methode bedient. "Viele kommen während einer Lebenskrise,
bei neuen Anforderungen im Job, weil sie sich ein anderes Miteinander
wünschen oder einfach aus einem diffusen Lebensgefühl heraus
ihre Ziele überdenken wollen", erzählt Gerhard. Die Grenzen
der Methode liegen jedoch dort, wo stimmungsverändernde Medikamente,
Drogen oder eine psychische Krankheit die Selbstverantwortlichkeit erschweren.
Bei Dietrich Schwarz* war es eine scheinbar natürliche Konfrontationslinie,
die ihn auf den Weg zu sich selbst brachte. Wo auch immer er arbeitete,
er hatte immer Schwierigkeiten mit dem Chef. "Etwas tut weh",
wusste er zunächst nur. Daraus wurde ein "was tut weh?" und "was
kann ich tun, damit es aufhört?" Inzwischen hat Schwarz sich
besser kennen gelernt. "Ich kann mich nicht völlig ändern,
aber ich verstehe mich jetzt." Er hat Spielräume in seinem Verhalten
gewonnen, "man verurteilt sich nicht mehr so stark", sagt Schwarz.
Denn "aus meinem Beklagen wurde ein Verantwortungsgefühl für
die Situation. Ich sehe, was meins ist."
*Namen geändert
Ende Oktober wird es wieder einen Grundkurs im Co-Counseln geben. Infos
dazu unter www.co-counseln-hamburg.de oder 040/86 53 00.
Copyright © contrapress media GmbH
taz Hamburg Nr. 6567 vom 6.10.2001, Seite 29, 58 TAZ-Bericht
Sandra Wilsdorf
http://www.taz.de/pt/2001/10/06/a0282.nf/text
|