TAZ 2001 - Erschwinglicher Seelenluxus

Erschwinglicher Seelenluxus

Therapie ohne Therapeut, Coaching ohne Coach: Co-Counseln ist gegenseitige Unterstützung auf Augenhöhe
Von Sandra Wilsdorf

Es gibt Menschen, die haben einfach immer Pech. Sie finden nie die richtigen Jobs. Und wenn doch, dann ist der Chef ein Idiot und die Arbeit viel zu viel. Oder sie opfern sich für ihre Mitmenschen auf und die vergelten das nicht mit der gebührenden Dankbarkeit. Oder die Liebe ist ein Hindernislauf. Manche dieser Menschen glauben, die Erde drehe sich nur, weil ihnen davon schwindelig wird. Sie können versuchen, die Drehung zu stoppen, oder sich mit dem Jammern darüber beschäftigen. Oder aber sie können nachsehen, ob sie nicht auch einen Anteil an der Vertraktheit ihrer Welt tragen, und versuchen, daran etwas zu ändern.

Wer sich bei der einsamen Selbstreflexion immer wieder im Kreise dreht, wem das Gespräch mit Freunden nicht reicht, eine Therapie aber zu teuer ist, der kann den Therapeuten in sich selber aktivieren: "Co-Counseln" heißt das Prinzip und stammt aus der humanistischen Psychologie in den USA. Die Idee: Jeder besitzt Möglichkeiten, sich zu entwickeln, welche das sind, kann nur er selber entdecken, und zwar in einem geschützten Raum, in dem er sich sicher fühlt.

Beim "Co-Counseln" schenken zwei Menschen einander Zeit zum Zuhören. Jeder hat die gleiche Zeit, seinen Gedanken nachzugehen, Situationen von gestern neu zu beleuchten oder das Morgen zu planen. Der Zuhörer beurteilt nicht und gibt keine Ratschläge, er unterstützt das Sprechen und sich Entdecken, indem er beispielsweise zum Weiterreden ermuntert, wenn das Gegenüber stockt, oder Assoziationen und Rollenspiele vorschlägt. Dem Gegenüber sind die Techniken vertraut, denn beide haben sie in einem zwei Wochenenden dauernden Seminar erlernt. Sie begegnen einander auf gleicher Ebene.

Auch Roland Gerhard* hat das Co-Counseln eine Weile durchs Leben geholfen. Er sieht die Therapie ohne Therapeuten, das Coaching ohne Coach auch pragmatisch und erinnert sich an ein Gespräch mit seinem Onkel, der Maler war. "Als die Baumärkte aufkamen fürchtete er, dass keine Wohnung mehr ordentlich tapeziert sein würde." Heute könne man darüber diskutieren, ob nicht vieles aus Coaching und Therapie in Eigenarbeit geschehen könnte. Nicht nur, weil sich dadurch mehr Menschen diesen Luxus leisten könnten, sondern auch, weil man dabei seine eigenen Fähigkeiten erlebe.

Als Gerhard vor acht Jahren von dem Prinzip des "gegenseitigen Beratens" hörte, wie Co-Counseln wörtlich übersetzt heißt, war der Berufsschullehrer gerade mal wieder völlig überarbeitet und hatte die Idee, dass das auch anders gehen müsste. Eineinhalb Jahre lang traf er sich ein- bis zweimal die Woche mit seinem Berater und Zuhörer, "das hat vieles in Bewegung gebracht". Heute hilft er mit, das Co-Counsel-Netzwerk in Hamburg zu organisieren und Kurse anzubieten.

Etwa 200 Menschen haben bisher ein Seminar besucht und sich eine Weile dieser Methode bedient. "Viele kommen während einer Lebenskrise, bei neuen Anforderungen im Job, weil sie sich ein anderes Miteinander wünschen oder einfach aus einem diffusen Lebensgefühl heraus ihre Ziele überdenken wollen", erzählt Gerhard. Die Grenzen der Methode liegen jedoch dort, wo stimmungsverändernde Medikamente, Drogen oder eine psychische Krankheit die Selbstverantwortlichkeit erschweren.

Bei Dietrich Schwarz* war es eine scheinbar natürliche Konfrontationslinie, die ihn auf den Weg zu sich selbst brachte. Wo auch immer er arbeitete, er hatte immer Schwierigkeiten mit dem Chef. "Etwas tut weh", wusste er zunächst nur. Daraus wurde ein "was tut weh?" und "was kann ich tun, damit es aufhört?" Inzwischen hat Schwarz sich besser kennen gelernt. "Ich kann mich nicht völlig ändern, aber ich verstehe mich jetzt." Er hat Spielräume in seinem Verhalten gewonnen, "man verurteilt sich nicht mehr so stark", sagt Schwarz. Denn "aus meinem Beklagen wurde ein Verantwortungsgefühl für die Situation. Ich sehe, was meins ist."

*Namen geändert

Ende Oktober wird es wieder einen Grundkurs im Co-Counseln geben. Infos dazu unter www.co-counseln-hamburg.de oder 040/86 53 00.

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taz Hamburg Nr. 6567 vom 6.10.2001, Seite 29, 58 TAZ-Bericht Sandra Wilsdorf

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