Taschenbuch - 300 Seiten - Goldmann, München, 2001 ISBN: 3442142113
(An zahlreichen Stellen wird Bezug auf das Co-Counseln genommen - als
einer Methode mit sich selbst und seinen Gefühlen wahrhaftig
und akzeptierend umzugehen.)
Einführung
Dieses Buch ist aus meiner persönlichen Erfahrung hervorgegangen.
Ich bin ein normaler Mensch, der in einer normalen Familie unter Umstanden
groß wurde, die Mitte der 50er-Jahre normal waren. Meiner Erinnerung
nach gab es in unserer Familie wenig Nähe; obwohl es Gelegenheiten
gab, bei denen wir zusammen froh oder traurig waren, zusammen feierten
oder zusammen litten, konnte von wirklicher Offenheit kaum die Rede sein. Über
Gefühle wurde nicht gesprochen. Kindliche Tränen- oder Wutausbrüche
wurden stark missbilligt und im Erwachsenenalter wurde jede emotionale Äußerung
auf ein Mindestmaß heruntergedämpft. Gelegentliche Eruptionen
wurden als vorübergehende Entgleisungen behandelt und wegerklärt
- sie waren die Folge von zu viel Alkohol, zu viel beruflichem Stress
oder geheimnisvollen Problemen, die nicht erörtert werden konnten.
Wie viele andere Kinder auch nahm ich wahr, dass zwischen meinen Eltern
so wie zwischen ihnen und uns, ihren vier Kindern, viele Emotionen hin
und her gingen, deren Macht umso stärker war, als nicht offen über
sie geredet wurde. Ich hatte keinen Namen für diese unterschwelligen
Strömungen, ich spürte sie nur. Das fehlende Bekenntnis zu den
Gefühlen kontrastierte stark mit der Intensität, die sich in
der Stimme und in den Blicken zeigte, was mich verblüffte und verwirrte.
Wir erlebten die üblichen Höhen und Tiefen des Daseins; auch
bei uns gab es Probleme wie Alkoholismus, Entlassung, Teenagerschwangerschaft
und Abtreibung, Depression und Anorexie, und doch sprach niemand die Gefühle
an. Sogar wenn es um Krankenhausaufenthalte ging, wurden ausschließlich
die medizinischen Belange besprochen, nicht auch die emotionalen, mit
denen wir auf die gewohnte - stumme - Weise umgingen.
Als junge Erwachsene war ich eine fleißige, tüchtige Lehrerin,
aber auf emotionale Intimität war ich nicht vorbereitet. Ich trank
regelmäßig Alkohol, um meine Ängste zu betäuben,
Anflüge von Selbstkritik zu ersticken und gelegentlich auch, um aggressive
Ausbrüche und die Entladung von Spannung zu schüren.
Zu einem Wendepunkt kam es um meinen neunundzwanzigsten Geburtstag: Ich
erwarb eine Reihe von Fertigkeiten, die sich für mich als lebenswichtig,
ja lebensverändernd, herausstellten. Zum ersten Mai in meinem Erwachsenenleben
stand ich vor der Möglichkeit, meine Gefühle in einem Sicherheit
bietenden, strukturierten Rahmen zu untersuchen, zu äußern
und zu entladen.
Langsam und durch regelmäßiges, eifriges Üben lernte
ich, den Reaktionen meines Körpers zu vertrauen. Die emotionale Entladung
wurde für mich zu etwas Natürlichem, Unverzichtbarem. Ohne sie
waren mir wahrend depressiver Phasen in den letzten fünfzehn Jahren
Medikamente wohl nicht erspart geblieben und wie viele andere Menschen
auch konnte ich wahrscheinlich nicht mehr ohne sie auskommen.
Das, was ich damals lernte, hat meine gesamte Lehr-, Trainings- und Beratungsarbeit
in den letzten dreiundzwanzig Jahren geprägt. Bei allen von mir entwickelten
Programmen für Selbstsicherheitstrainings oder Sexualberatungen ist
die emotionale Komponente ein integraler Bestandteil. Denn Gefühle,
ob geäußert oder nicht, bewusst oder nicht, bilden das Kernstück
fast aller Schwierigkeiten, sei es von Problemen mit der Selbstbehauptung
wie von scheinbar sexuellen Problemen. Es fasziniert mich immer wieder,
dass die TeilnehmerInnen an meinen Workshops jedes Mai sehr daran Interessiert
sind herauszufinden, warum wann welche Emotionen auftreten, aber nicht
wissen, wo sie nach den Antworten suchen sollen.
Kaum einer der Erwachsenen, mit denen ich beruflich oder privat zusammengekommen
bin, hatte eine zutreffende Vorstellung von der Funktionsweise von Emotionen,
und das ungeachtet seiner persönlichen Qualitäten oder seiner
beruflichen Erfahrung. Wir sind, so konnte man sagen, immer noch emotionale
Analphabeten. Wir finden kaum die richtigen Worte, um unsere Gefühle
zu beschreiben: Es fällt uns schwer, zwischen sentimentalen, manipulativen
und aufrichtigen Tränen zu unterscheiden; wir verwechseln Wut mit
Aggression, Kummer mit Depression. Wir leiden unter allen möglichen
körperlichen Beschwerden und wissen im tiefsten Inneren, dass sie
mit den Gefühlen zu tun haben, verstehen aber trotzdem nicht, was
abläuft. Wir wissen, dass Tränen etwas Natürliches sind,
sind aber trotzdem schrecklich verlegen, wenn wir weinen. Fehlendes Wissen
schürt die Angst vor den Gefühlen. Sie bleiben - gut abgeschottet
- im Reich des Unbekannten und Geheimnisvollen. Trotzdem glaube ich, dass
viele Menschen ihre Emotionen besser verstehen wollen.
Über Emotionen sachlich zu reden und schreiben ist so ähnlich,
als würde man die chemische Zusammensetzung des Meerwassers erörtern
oder die Tiefe der Meeresströmungen analysieren. Egal wie genau die
Beschreibung ist - sie kann nie die subjektive Erfahrung vermitteln, wie
das Wasser schmeckt oder sich anfühlt. Das emotionale Reden und Schreiben über
Emotionen ist zwar in gewisser Weise dem Thema angemessener, gerät
aber leicht zu einem sentimentalen, wirren Durcheinander.
Dieses Buch ist ein Wegweiser zu unseren Gefühlen, es zeichnet die
Strömungen und Bewegungen des Herzens auf. Es erklärt, was Emotionen
sind, warum und wo sie auftreten und wie wir konstruktiver mit ihnen umgehen
können. Vor allem macht es deutlich, dass Emotionen zum Leben gehören
und nicht als Problem betrachtet werden sollten. Wir halten Emotionen gern für etwas Problematisches und sind deshalb
zunehmend von berufsmäßigen Helfern abhängig - Psychologen,
Psychiatern, Therapeuten und Beratern; wir verlassen uns auf ihre Sachkenntnis,
damit sie den »Fehler« diagnostizieren und korrigieren. Ab
und zu lernen wir durch eine Beratung oder Therapie etwas über unsere
Emotionen, aber das ist nicht garantiert.
Die Erfahrung hat mich davon überzeugt, dass es genauso wichtig ist,
die Wirkungsweise unserer Emotionen zu verstehen, wie die des Verdauungs-
oder des Atmungsprozesses. Wir brauchen dazu kein Experte zu sein, genauso
wenig wie wir Ernährungswissenschaftler oder Lungenspezialist sein
müssen, um zu entscheiden, was wir essen oder wie wir atmen wollen.
Das, was ich auf den folgenden Seiten darstelle, beruht auf fünfzig
Jahren persönlicher Erfahrung - modifiziert, geklärt und verbessert
durch zwanzig Jahre beruflicher Erfahrung, in denen ich direkt und indirekt
mit anderen Menschen und ihren Emotionen gearbeitet habe.
Hier ist eine Warnung angebracht: Der Inhalt dieses Buches wird Ihre
Gefühle ansprechen! Emotionen lassen sich nicht untersuchen, ohne
dass gelegentlich Aspekte der persönlichen Erfahrung berührt
werden - Erkenntnisse, Erinnerungen, Assoziationen -, die für den
Leser möglicherweise unbehaglich oder gar schmerzhaft sind. Aber
je informierter wir sind, je mehr wir wieder erkennen, desto eher können
wir unsere Emotionen akzeptieren und ihnen vertrauen.
Den Gezeiten vertrauen versteht sich als theoretischer und praktischer
Wegweiser zu unseren Emotionen. Im ersten Teil stelle ich eine Emotionstheorie
vor und erkläre, wie unsere kindliche Erfahrung mit Emotionen unsere
Verhaltensmuster und Beziehungen als Erwachsene bestimmt. Ich schildere
das Auftreten, die Erregung und die Entladung von Emotionen als natürlichen
Prozess, der durch Überzeugungen und Ängste behindert wird,
was dazu fuhrt, dass nicht geäußerte Emotionen unser Leben
auf verschiedenste Weise beeinträchtigen. In Teil Zwei geht es um
das Potenzial zur praktischen Veränderung: Wie konnte eine Lösung
aussehen und die emotionale Erziehung verbessert werden; wie können
wir das emotionale Alphabet lernen und Gefühle klarer äußern
und wie lassen sich manche Auswirkungen von emotionalen Blockaden aus
der Vergangenheit von der Wurzel her beheben. Der dritte Teil zeigt, wie
wir praktisch mit der Körper-Seele-Verbindung leben können und
wie wichtig das Gefühlsmanagement im Alltag ist.
Denken Sie daran, dass Emotionen als Medium für uns nichts völlig
Neues sind. Dieses Buch soll Sie auch an etwas erinnern: Auch wenn wir
die Sprache der Emotion nicht mehr fließend und sicher sprechen,
hat jeder von uns sie früher einmal auswendig gekonnt.
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