Mut
Mut gibt es gar nicht. Sobald man überlegt, wo man ist,
ist man schon an einem bestimmten Punkt.
Man muss nur den nächsten Schritt tun. Mehr als den nächsten
Schritt kann man überhaupt nicht tun.
Wer behauptet, er wisse den übernächsten Schritt,
lügt. So einem ist auf jeden Fall mit Vorsicht zu begegnen.
Aber wer den nächsten Schritt nicht tut, obwohl er sieht,
dass er ihn tun könnte, tun müsste, der ist feig.
Der nächste Schritt ist nämlich immer fällig.
Der nächste Schritt ist nämlich nie ein großes
Problem. Man weiß ihn genau.
Eine andere Sache ist, dass er gefährlich werden kann.
Nicht sehr gefährlich. Aber ein bisschen gefährlich
kann auch der fällige nächste Schritt werden.
Aber wenn du ihn tust, wirst du dadurch, dass du erlebst,
wie du ihn dir zugetraut hast, auch Mut gewinnen.
Während du ihn tust, brichst du nicht zusammen, sondern
fühlst dich gestärkt. Gerade das Erlebnis, dass du
einen Schritt tust, den du dir nicht zugetraut hast, gibt dir
ein Gefühl von Stärke.
Es gibt nicht nur die Gefahr, dass du zuviel riskierst, es
gibt auch die Gefahr, dass du zu wenig riskierst.
Dem Gehenden schiebt sich der Weg unter die Füße.
Martin Walser (* 1927 in Wasserburg, Bodensee, deutscher Schriftsteller)
Aus: Lektüre zwischen den Jahren
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